Geschichtlich > Handel und Wandel > Die Entwicklung ab 1939 > Todesmarsch 1945 - Der unbekannte Tote von Einfeld
Es ist Mai 2020 und man sieht, neben vielen Berichten über die Conrona-Pandemie, auch einige Berichte über das Kriegsende 1945 und die vielen Gedenkstunden in Dachau, Auschwitz und anderen Orten. Wie war es zu der Zeit in Einfeld? Im Archiv der Einfelder Schule scheinen die Seiten über die Kriegszeit im Tagebuch zu fehlen. In der Finnenhaus-Story 1943/1944 werden Kriegsgefangene als Arbeitskräfte erwähnt. Aber besonders fällt die Geschichte eines "Todesmarsches 1945" bei der Recherche auf. Am 24. April verließen 400 Gefangene Neuengamme und wurden über Bergedorf, Hamburg, Neumünster nach Kiel gebracht. Dieser führte um Neumünster herum und danach durch die Großgemeinde Einfeld, wo ein Häftling getötet wurde. In den Jahren 2016/2017 wurden auf der Strecke zwischen Hamburg und Kiel einige Gedenktafeln zu Ehren der auf dem Marsch Getöteten aufgestellt, eine davon in Einfeld. Eine wichtige Person war dabei Heinrich Kautzky (1949-2018). Sein Name ist eng verbunden mit der Einfelder "Alte Obstwiese" in der Kieler Straße. Am 05. Dezember 2016 marschierte eine Klasse der Freien Waldorfschule vom Roschdohler Weg zur Industriestraße. Gemeinsam mit Stadtteilbeirat (STB) Einfeld und der Ev.-Luth. Kirchengemeinde wurde dort eine Gedenktafel aufgestellt, die an den Todesmarsch 1945 und einen in Einfeld Getöteten erinnern soll. Mehr über den "unbekannten Toten von Einfeld" findet sich in der AKENS-Broschüre "Der 'Evakuierungsmarsch' von Hamburg-Fuhlsbüttel nach Kiel-Hassee (12.–15. April 1945)" von Uwe Fentsahm. Dieser wird hier in Auszügen wiedergegeben. Zusätzlich gibt es hier eine Verlinkung zum Rundbrief 2 der Biografie Arbeitsgruppe vom 22.10.2017. |
Die Klasse der Freien Waldorfschule auf dem Weg zur neuen Gedenkstätte in Einfeld
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Ein Schüler befestigt die Gedenktafel in der Kieler Straße / Ecke Industriestraße
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Heinrich Kautzky (v. links), Sven Radestock (STB Einfeld) und Pastor Christian Dahl
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Uwe Fentsahm - Der „Evakuierungsmarsch“ von Hamburg-Fuhlsbüttel nach Kiel-Hassee (12.–15. April 1945) ".... Im Zuge des Ermittlungsverfahrens war 1947 auch der Bürgermeister von Neumünster angeschrieben worden: Man habe gehört, dass im Raum Neumünster „verschiedene Häftlinge“ in der Mitte des Monats April 1945 erschossen worden seien. Die zugehörigen Sterbeurkunden sollten doch bitte in Abschrift übersandt werden. Oberstadtdirektor Bärwald antwortete: „Die Marschgruppen mit den Häftlingen sollen seinerzeit um die Stadt Neumünster herumgeleitet worden sein. Dem Vernehmen nach sollen beim Standesamt in Gadeland bei Neumünster Beurkundungen der in Frage kommenden Sterbefälle vorgenommen sein.“ (66) Der Oberstadtdirektor zeigte mit dieser Vermutung, dass er gut informiert war. Dem Verfasser war über einen längeren Zeitraum nicht klar, warum die Häftlingskolonnen „um die Stadt Neumünster herumgeleitet worden“ sind. Dieser Hinweis findet sich auch in dem autobiographischen Bericht der Hilde Sherman: „Wir erreichten eine Stadt, Neumünster, die wir von außen umgingen.“ (67) Sollten die „Elendszüge“ aus Hamburg den Augen der städtischen Bevölkerung vorenthalten werden? Als Erklärung kommt natürlich nur die Zerstörung der Stadt durch Bombenangriffe in Frage: Am 07. April 1945 hatte es bereits 599 Todesopfer und erhebliche Zerstörungen gegeben. Doch die Luftangriffe vom 13. April, also unmittelbar vor dem geplanten Durchmarsch der Transporte aus Fuhlsbüttel, waren noch wesentlich verheerender. In einer Stadtchronik des Jahres 1945 heißt es dazu: „Ein Passieren der Straße Am Teich blieb selbst für Fußgänger viele Wochen unmöglich. ... Sehr schwer gelitten hatte auch die Kieler Straße. ... Trümmer des Hamburger Engros-Lagers versperrten den Eingang zur Christianstraße, deren mittlerer Teil schon bei den Angriffen des Jahres 1944 vernichtet“ worden war. (68) Damit war die Benutzung der Hauptverkehrsstraßen im Zentrum von Neumünster unmöglich geworden. Der ebenfalls von der War Crimes Group in Hamburg angeschriebene Gemeindedirektor von Einfeld (damals noch eine eigenständigen Gemeinde nördlich von Neumünster) teilte mit: „Es ist hier amtlich von Erschießungen von Häftlingen nichts bekannt. Auch sind derartige Fälle hier nicht beurkundet. Nach Auskünften von Einwohnern der Gemeinde Einfeld soll in der Nähe der Lederfabrik Quark [Kieler Straße 574] die Erschießung eines Häftlings stattgefunden haben. Personalangaben usw. über den erschossenen Häftling sind jedoch vollkommen unbekannt. Weitere Erschießungen sind nicht bekannt.“ (69) Mit dieser Antwort gaben sich die Briten nicht zufrieden und schrieben ermahnend nach Einfeld zurück: „Wenn ein Häftling in der Nähe der Lederfabrik Quark erschossen worden ist, muss er ja auch irgendwo beerdigt sein.“ Der Gemeindedirektor stellte daraufhin weitere Nachforschungen an und konnte Ende April 1947 vermelden: „Nach Auskunft der Friedhofsverwaltung Neumünster soll am 03.05.1945 ein Unbekannter auf dem Friedhof in Einfeld begraben worden sein. Ob es sich in diesem Falle um den erschossenen Häftling handelt, ist sehr unwahrscheinlich, da der Gefangenenzug doch schon Mitte April 1945 durch Einfeld gekommen sein muß. Auch Erhebungen bei der Zivilbevölkerung blieben bisher ergebnislos.“ Aus diesem Grunde könne man auch keine Sterbeurkunde nach Hamburg übersenden, da damals keine ausgestellt worden sei. Diese Hinhaltetaktik des Gemeindedirektors von Einfeld muss der Untersuchungskommission in Hamburg verdächtig vorgekommen sein, denn sie entsandte im Mai 1947 den 2-Lieut. C.R. Freud nach Einfeld, um den ehemaligen Friedhofsgärtner Gottlieb Philippczyk und die Anwohnerin Eliese Oetting zu befragen. Der Friedhofsgärtner gab zu Protokoll: „Es ist mir noch genau erinnerlich, dass ich an einem Sonntag im April 1945, das genaue Datum kann ich nicht angeben, den Platz für einen Toten auf dem hiesigen Friedhof angewiesen habe. Es handelte sich um eine Person, die auf einem Gefangenentransport in Einfeld erschossen wurde. Ob diese Person ein Ausländer oder ein Deutscher war, weiß ich nicht. Die Leiche, die auf Stroh auf einer Karre lag, wurde um die Mittagszeit [am 15. April] von dem ehemaligen Polizeiwachtmeister Höppner und anderen Polizisten auf den Friedhof gebracht. Die Leiche wurde in einem Grabe abseits beerdigt, in dem schon vier russische Gefangene begraben lagen. Ich habe keine Todesurkunde oder sonstige Ausweispapiere über diese Leiche erhalten. Ich habe die Leiche des Häftlings in dem Kirchbuch als "Unbekannter" eingetragen.“ (70) Genaueres konnte die in Einfeld an der Kieler Chaussee wohnende Eliese Oetting berichten: „Im Monat April 1945 zogen mehrere Kolonnen KZ-Häftlinge [auf] der Reichsstraße von Richtung Neumünster nördlich herauf. Der Vorfall, an den ich mich erinnere, handelte sich um den letzten Transport der Häftlinge, die meines Wissens eines Sonnabends vorbeimarschierten. Der Sachverhalt war folgender: Gegen 15:00 Uhr nachmittags [am 14. April] sah ich von meinem Garten wie ca. 100 Häftlinge mit SS-Begleitung vorbeimarschierten. Als die Kolonne an dem Wendtsweg vorbeimarschierte, sah ich, wie zwei SS-Männer, die einen Häftling zwischen sich hatten, weg von der Kolonne den Wendtsweg herauf gingen. Ich ging wenige Minuten, es können nicht mehr als drei oder vier Minuten gewesen sein, in mein Haus und kam dann wieder heraus um zu sehen, wo die SS-Leute und der Häftling hingegangen waren. Von meiner Tür aus sah ich aber, daß die zwei SS-Männer ohne den Häftling der Kolonne schon wieder nachgingen. Ich ging hierauf den Wendtweg herunter und sah den Häftling in einer Entfernung von 100 m von der Hauptstraße in dem Weg liegen. Ich untersuchte den Häftling, stellte fest, daß er tot war und daß die Todesursache Genickschuß war. Obgleich ich nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob der Häftling ein Deutscher oder ein Ausländer war, bin ich der Meinung, daß er ein Russe war. Er sah typisch russisch aus. Er wurde am nächsten Tage vom Polizeibeamten [Höppner] abgeholt.“ (71) Es erscheint einigermaßen problematisch, ob man das Verhalten der Frau Oetting als couragiert bezeichnen kann oder nicht. Ihre Aussage war jedenfalls sehr informativ und stimmte mit der Aussage des Friedhofsgärtners überein. Der Polizeimeister Karl Höppner war bereits einen Tag vor Philippczyk und Oetting (an seinem neuen Wohnort in Itzehoe) vernommen worden. Seine Aussagen deckten sich mit denen der anderen beiden Zeugen. Höppner gab allerdings zu Protokoll, dass Frau Oetting (erst) am Sonntag, dem 15. April 1945, zu ihm gekommen sei, um den Vorfall anzuzeigen: „Die Leiche ist am nächsten Montag in Einfeld beerdigt worden. Obgleich ich an die Kreisverwaltung einen Bericht über diesen Vorfall erstattet habe, glaube ich nicht, daß sich eine Todesanzeige in Einfeld befindet. Dieses wurde wohl nicht gemacht, da ich die Nationalität, Religion und Namen des Häftlings nicht feststellen konnte.“ (72) Dem Gericht ist es nicht gelungen, die Identität des Opfers zu klären. Außerdem blieb die Frage unbeantwortet, zu welcher der drei (bzw. nur noch zwei) verbliebenen Marschkolonnen der Tote gehört hatte. Die Angeklagten konnten oder wollten sich an einen derartigen Vorfall nördlich von Neumünster nicht erinnern. Und deshalb gab es für Dr. Block als Verteidiger von Wilhelm Hennings auch keinerlei Zweifel, dass der Mord in Einfeld „can have no connection with the column of the defendant“. Der Anwalt war auch nicht um eine Lösung des Problems verlegen: „Another column must have been concerned. Also the Concentration Camp Neuengamme was being evacuated at that time to Kiel, partly marching on foot.“ Mit diesem Hinweis scheint sich das Gericht zufrieden gegeben zu haben. Eine genauere zeitliche Differenzierung wurde nicht vorgenommen, und vielleicht hat Dr. Block dem Gericht sogar wissentlich verschwiegen, dass der erste Evakuierungsmarsch von Neuengamme nach Schleswig-Holstein erst am 24. April 1945 begann. (73) Eine Rast nördlich von Neumünster Transportführer Hennings hatte in diesem Zusammenhang lediglich eingeräumt, dass es nördlich von Neumünster am frühen Nachmittag des 14. April bei einer Rast auf einer Koppel zu einem Zwischenfall gekommen sei. Die Gefangenen waren in der Mitte der Koppel versammelt und die Wachmänner bildeten eine Kette um die Gruppe, die aus der unmittelbaren Nachbarschaft mit Wasser versorgt werden sollte. Plötzlich kam es unter den Gefangenen zu einem Streit, die Wachmänner sprangen auf und prügelten auf die Gefangenen ein. Hennings will dazwischen gegangen sein und die Gemüter beruhigt haben. Weiter habe es keine Disziplinarmaßnahmen gegeben. Es sei zwar möglich, dass beim Verlassen des Rastplatzes zwei oder drei Häftlinge zusammen mit einem Wachmann zurückgeblieben sind. Doch dies sei nur geschehen, um den Platz zu säubern und den Anwohnern die geborgten Wasserbehälter zurückzubringen. Anschließend seien die zurückgebliebenen Personen der Kolonne gefolgt und hätten diese auch bald wieder erreicht. Dr. Block beeilte sich noch mit dem Hinweis: „No shooting took place, especially no shooting of a member of an Allied Nation.“ (74) Aus der Sicht des damals mitmarschierenden Häftlings Schulz gestaltete sich der Zwischenfall allerdings etwas anders: Er konnte zwar auch bestätigen, dass es einen Streit gegeben hatte, denn zwei Russen seien wegen eines Brotstückes aneinander geraten. Doch anschließend sei einer der Beteiligten separiert worden und Hennings, Hahn und ein SS-Mann seien mit ihm allein zurückgeblieben. Hennings hätte die Kolonne als erster wieder erreicht, dann sei der SS-Mann gefolgt und zwei Schüsse seien zu hören gewesen. Anschließend wäre Hahn als Letzter zu der wieder in Bewegung befindlichen Kolonne gestoßen. Diese Aussage würde inhaltlich ziemlich genau zu den oben genannten Erinnerungen der Frau Oetting passen. Doch das Gericht orientierte sich lieber an den Aussagen der Anwohner Ostwald und Timmermann, die der Gruppe bei der Rast auf der Koppel Wasser zur Verfügung gestellt hatten. Nach Ansicht von Dr. Block hätten diese beiden glaubhaft versichert, „that certainly no shots were fired there, that no prisoner either was shot of this column“. Der durch die Aussage des ehemaligen Häftlings Schulz schwer belastete Johann Hahn konnte oder wollte sich an den Streit um das Stück Brot nicht erinnern und ist auch vom Gericht nicht weiter damit behelligt worden. (75) Durch den Anwohner Heinrich Ostwald, der vor Gericht erscheinen und aussagen musste, konnte der Rastplatz genauer lokalisiert werden: Es handelte sich um eine Koppel westlich der Reichsstraße 4, genau gegenüber dem Haus von Ostwald, und bis zum Bahnhof in Einfeld musste noch ein km Wegstrecke zurückgelegt werden. (76) Der Tatort Wendtweg (heute Industriestraße) liegt dagegen etwas weiter nördlich, in einer Entfernung von 500 Metern zum Einfelder Bahnhof. ..."
Die Prozessakten befinden sich vollständig im Public Record Office. Es handelt sich um die Abteilung „War Office“ (WO).
(66) Entsprechender Schriftwechsel in: WO 309/967.
(67) Sherman, S. 128.
(68) Karl Barlach: Stadtchronik 1945, in: Als unser Leben Kleinholz war. Neumünster 1945 - 1948, S. 17
(69) Entsprechender Schriftwechsel in: WO 309/967.
(70) Aussage von Gottlieb Philippczyk am 22.5.1947, in: WO 235/410 (Exhibit 27).
(71) Aussage von Eliese Oetting am 22.5.1947, in: WO 235/410 (Exhibit 25).
(72) Aussage von Karl Höppner am 21.5.1947, in: WO 235/410 (Exhibit 26).
(73) Katharina Hertz-Eichenrode (Hrsg.): Ein KZ wird geräumt. Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945, S.53.
(74) Abschlussplädoyer von Dr. Block für Hennings, in: WO 235/411 (S.15) und Befragung von Hennings, in: WO 235/409 (S.54).
(75) Befragung von Hahn, in: WO 235/409 (S.119).
(76) Aussage von Heinrich Ostwald, in: WO 235/409 (S.87)
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